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The Pamphlet Collection of Sir Robert Stout: Volume 22

IV

IV.

Nach einer köstlichen Nacht fuhr ich morgens 5 Uhr weiter im Tessinthal über Bellinzona, schon inmitten von Kastanienwäldern, Maulbeer- und Feigenbäumen, auf der immer prächtigen Gotthardbahn nach Lugano, über den Luganer See, vorbei an den imposanten Bergriesen Monte Generoso und Monte San Salvatore, weiter nach Como. Hier ging ich sogleich an Bord und fuhr über den schmalen schönen See, liess das berühmte Bellagio rechts liegen und stieg in Mennaggio an Land. Vögel traf ich auf dem Comersee nicht. Eine tramwayartige schmalspurige Eisenbahn führt die Passagiere in Kürze nach Porlezza, Endstation des Luganersee. Dieser See trägt einen sehr ernsten Charakter, hoch steigen die dunkelbelaubten Berge aus den dunkeln Fluten an, wenige Ortschaften finden Platz an dem schmalen Gestade. Der Comersee hingegen ist viel freundlicher, von hunderten von Villen umkränzt, deren auch auf den einzelnen Bergen eine Menge zerstreut liegen. Auf der Fahrt nach Lugano hatte ich das besondere Glück, eine weitere, für mich neue Alpenspecies sicher beobachten zu können: den Steinadler (Aquila fulva). Ein altes rostbraunes Exemplar schwebte in majestätischem Fluge über dem See, in herrlichen grossen Schraubenlinien spielend. Einmal umpflog er in einer solchen Kurve den ganzen Gebirgsstock des Salvadore, des „Rigis Oberitaliens.“ Wohl eine gute halbe Stunde tummelte er sich in der Luft bald über den Bergen, bald über dem See; dann flog er geradlinig den Alpen zu. — Unser Schiff hatte inzwischen Lugano angelaufen und fuhr nunmehr um den mehrgenannten Monte San Salvadore in den nördlichen taschenartigen Teil des Sees, an dessen Ende in Pontetresa, einer kleinen italienischen Stadt, die Reisenden von Bord sogleich zur Bahn übergehen, um dem Lago Maggiore zuzueilen. Die kleine Eisenbahn bis Luino ist von einer überraschenden Schönheit: sie folgt der wilden Tresa, einem kleinen verwegenen Gebirgsbach, der sich den Weg durch kastanienbewachsene Hügel und Vorberge bahnt. Eigentümlich wirkt das matte Grau der zahlreichen Olivenbäume auf den dieses Anblicks Ungewohnten. Nur die Bahn, keine Strasse daneben, läuft in dem engen Thal, welches eine Gebirgslandschaft en miniature darstellt. Von Luino fuhr ich allsogleich mit dem Dampfer über den Lago Maggiore, vorbei an reich mit reifen page 20 Orangen beladenen Spaliers. Wunderbar weich wehte ein echt italienischer Wind, obwohl der Abend schon weit vorgeschritten war. Lichter erglänzten auf den seligen Inseln des Grafen Borromeo. Nachtigallengesang ertönte von dort und von den Ufern. Um 9¼ Uhr landete ich in Pallanza. In den Arcaden, dem Strande nahe, spielten zwei Italienerinnen auf Violinen das Finale einer Verdi'schen Oper, ein alter Mann accompagnierte auf der Zither. Ringsum standen in drei Reihen eine bunte Menge Volkes, nichts thuend, den wonnevollen Tönen lauschend: eine italienische Nacht! —

Der 25. Mai war ein besonders feierlicher prächtiger Tag. Azurblau leuchtete der Himmel, azurblau lag der schöne See da. An dem seichten Gestade schaukelten Gondeln mit schneeweissen Leinendächern — das war der erste Blick, den ich vom Balkon meines Zimmers in der Frühe genoss. Baldigst setzte ich mich in eine Gondel und fuhr, von einem Vollblut-Italiener gerudert, hinüber zu den borromäischen Inseln. Der Mann konnte glücklicherweise französisch, so brachte ich doch einiges über die Ornis der Gegend aus ihm heraus. Er erzählte mir, im Herbste sei der See von vielen verschiedenen Enten besucht, welche die Fischer mit sehr grossen Flinten, in einem Boote einzeln liegend, en masse schössen (also ganz à l'anglais!). Möven (Lar. ridibundus) brüteten am See nicht sehr zahlreich, da ihre Eier gegessen würden. Dass es sich nur um die Lachmöve handelte, ging deutlich aus der charakterisierenden Bemerkung meines Gondoliere hervor, sie hätten im Sommer schwarze, im Winter weisse Köpfe. Als wir soeben die Isola S. Giovanni passiert hatten, flog eine Sturm-rnöve (Lar. canus),**) einen Flintenschuss vor dem Kahne her. — Bald landeten wir an der südlichen Insel Isolabella, einem Juwel, auf dem Palmen, Orangen, Lorbeern, Magnolien, Gedern vom Libanon, nordamerikanische Korkeichen, üppigster Epheu, Oleander und viele andere südliche Pflanzen in tropischer Pracht im Freien gedeihen. Eine Unmenge Eidechsen (Lac, agilis) belebte die Terrassen und Grotten. Schildkröten krochen träge - über den Rasen dahin. Ein mannigfaltiges Vogelconcert erfreute mich, der ich fürchtete, in dem vielgetadelten Italien überhaupt keine Cantatores zu finden. Mehrere Nachtigallen (Liiscinia vera) und Singdrosseln (Tnrd. musicas), ein Laubsänger (Phyll. trochilus) und zahlreiche Spatzen (leider nicht Passer italiae, sondern domesticus) stellten die Fröhlichkeit dar; ein Paar Turteltauben (Turtur

** [Ich hätte L. Audouini Payr erwartet, indess war kein Zweifel, dass ich die sehr oft früher an der Ost- und Nordsse beobachtete Sturmmöve, welche Haumr für den fago maggiore schon nachgewiesen hftt, vor mir hatte. Lev.]

page 21 risorius)*) gurrten melancholisch; phlegmatisch rief ein Kuckuck (Cuc. cantorus) aus einer Magnolie, während ein Puter zornig drein-kollerte. Auf lsola Maclre traf ich dieselben Arten noch reichhaltiger an, auch Er. rubecida, Hyp. icterina, Sylvia hortensis, welch letztere übrigens lsola bella auch belebte. Ein Paar Goldfasanen und mehrere Paare halbverwilderte Jagdfasanen (Phasianus pictus et colchicus) liefen in dem dichten Unterholz umher. Nachdem ich die Wunder der Inseln alle geschaut, gondelte ich langsam um die lsola dei Pescatori gen Pallanza zurück. — Am Nachmittage genoss ich die herrliche Fahrt auf dem Lac majenr zum zweiten Male. Bald entschwand die Simplonstrasse mit ihren schneebedeckten Bergriesen den Blicken; die lieblichsten Landschaften wechselten schnell Alle Gelände waren reich mit goldgelben reifen Orangen geschmückt, welche stellenweise an Grösse unsere stärksten Apfelsinen übertrafen. — Von Locarno, der Vaterstadt jenes berühmten „Bettelweibs“, genoss ich aus der Höhe der Madonna del sasso noch einmal einen Totalblick über den Lago Maggiore, indess die Sonne zur Rüste ging und die Schneegipfel der Alpen in rosiges Licht hüllte. Nicht programmmässig blieb ich in Locarno bis Abends ½9 Uhr, da ich mich, durch die Aussage eines Herrn verführt, nach Römischer Zeit anstatt nach Berner zum Bahnhof aufmachte und den Nachmittagszug verpasste (Bern ist Rom um 20 Minuten voran). So musste ich, um keinen Tag zu verlieren, die Nacht durch mit einen Express die Gotthardbahn zurückfahren, — durch den Gotthard dieses Mal! — um in Altorf um 4 Uhr Morgens den Train zu verlassen und mich gen Fluelen zu wenden. In Altorf spektakelten die Vögel schon munter, soeben bei Morgengrauen und schöner Alpenbeleuchtung. Doch war keine interessante Speeles darunter. Von Fluelen wandelte ich auf der Axenstrasse eine Strecke weit, wurde aber bald durch einen leichten Regen zurück zum Boote getrieben, auf welchem ich in recht empfindlich kühler Luft über den Lac de quatre cantons nach Luzern dampfte.
Nach üblicher Besichtigung der Merkwürdigkeiten schlenderte ich zu dem kleinen zoologischen Cabinet des Präparators S. Stauffer in unmittelbarer Nähe des „Löwen“ und des Gletschergarten. In einem gut belichteten Räume stehen, zum Teil malerisch angeordnet und meist gut gestopft und erhalten, eine Anzahl von charakteristischen Alpentieren, von denen uns zunächst die Vögel interessieren. Mit Ausnahme einiger Jagdfalken

* (Diese Art und nicht auritus! Sie lebt ganz verwildert auf der Insel, wie auch Herr Oberamtmann Nehrkorn einige Zeit nach meinem Besuch feststellen konnte. Lev.]

page 22 (Falc. gyrfalco) ist das Habitat sämmtlicher Stücke die Schweiz Ein prächtiger alter Lämmergeier (Gyp. barbatus), nach Angabe Girtanners (l. c) ein ♂ nach dem Katalog des Besitzers ein ♀ neben einem jüngeren ♀, beide aus dem Canton Graubünden, 1859 und 1861 geschossen, fallen sofort in die Augen. Strix passerina mit flüggen Jungen, und St. giu aus der Umgegend der Stadt, verdienen Beachtung. Das erste von Vogel beschriebene Nest von Nuc. caryocatactes, dem so viel Staub aufwirbelnden Tannenhäher, mit einem Jungen (leider auch im Nestkleide, nicht in Volldunen) aus dem Schächenthal im Canton Uri, ist von Stauffer gefunden und wird als kostbares Heiligtum in seinem Cabinet aufbewahrt. Ein interessantes Nest von Pyrrhoc. alpinus zeigte mir Strauffer. Er hat es auf einer gefahrvollen Expedition vor 20, 30 Jahren vom Pilatus geholt. Sechs Mann hielten das Tau, an dem St. in eine enge Felsenschlucht herabgelassen wurde. Unten angekommen, sah sich St. vor einer abfallenden Felsenspalte, in welche er mit Hülfe einer schnell beschafften kleinen Leiter gelangte. Auf dem freien Boden dieser stand, ein selbstständiger, nicht angelehnter kleiner Hochbau auf dem Gestein, das Nest mit dem vollen Gelege. Ängstlich krächzten die Alten in der Luft während der Entnahme ihrer Brut. Das Nest selbst oder besser die innerste Portion desselben hält noch 3/.t Fuss im Durchmesser; es besteht aus einer homogenen Masse rotbraunen Bastes, ganz so wie es Girtanner (l. c. p. 293) beschreibt. Stauffer hat manchem seltenen Schweizervogel in die Wochenstube geschaut, worüber die jungen Mauerläufer (Tick, muraria) und Alpensegler (Cyp. melba) u. a. Zeugnis ablegen. Eine Menge Sumpf- und Schwimmvögel ist auf dem Vierwaldstätter und anderen Schweizer Seen erbeutet, unter welchen jedoch keine Species sich befand, die Prof. Moesch in seiner citierten Avifauna nicht anführte. — Dem Besucher wird ein Verzeichnis der Sammlung in die Hand gedrückt, welches haarsträubend von Druck- und andern Fehlern wimmelt. Der freundliche Besitzer würde den Wert seiner hübschen Sammlung, welcher jeder des Wegs ziehende Ornithologe einen Besuch abstatten wird, wesentlich erhöhen, wenn er einen systematisch geordneten Katalog drucken Hesse, in welchem die heutigen Tages gebräuchlichen wissenschaftlichen Namen korrekt verzeichnet ständen. —

Um die ersehnten Alpenkrähen selbst zu sehen und in freier Natur zu beobachten — lebend hatte ich sie bis dahin nur beim sei. Pastor Thiene mann in Zangenberg bei Zeitz gesehen, als ich ihn vor Jahren im Herbste besuchte — steuerte ich baldigst wieder über den See nach Iiergiswyl, um von hier den Pilatus, der in glänzender Beleuchtung klar vor Augen lag, zu erklettern. page 23 Doch schon eine Viertelstunde nach begonnenem Aufstieg musste ich mein Vorhaben infolge eines Wolkenbruchs aufgeben. Ein aussichtslos schlechtes Wetter hielt an, somit reiste ich am selben Tage noch weiter auf der Entlibuchbahn nach Bern, nachdem ich zuvor durch das Drahtseil mich auf den Gütsch hatte heben lassen, um Luzern aus der Vogelperspektive zu sehen. — Den Besuch des Luzerner naturhistorischen Museums, obenso wie den des Baseler und der grossen Naturalienhandlung von G. Schneider in Basel versparte ich mir aus Zeitmangel auf einen zweiten, hoffentlich etwas langsameren „Flug durch die Schweiz.“ — Von Bern besah ich nur flüchtig das zoologische Museum, die städtischen Sammlungen; die ornithologische Sammlung ist nicht bedeutend, die Schweizer Ornis ist abseits für sich aufgestellt. Mehrere Falsa in den Etiketten fielen mir auf. In der Mitte der Säule ist eine höchst mangelhafte Eiersammlung aufgestellt, in welcher ein sehr fragliches Bartgeierei (??) thronte,*) nicht weit von einem Misteldrosselnest mit 4 Eiern unter der Bezeichnung: Nucifraga caryocatactes!! — Von Bern ging's nach Bienne (Biel), woselbst die längste Drahtseilbahn (über 900 m) den Reisenden hinauf nach einem Hotel zieht, von dem eine Prachtaussicht über die Gesammtalpenkette, das ganze Berner Oberland mit Jungfrau, Finsternaarhorn, weiter bis zu den höchsten Spitzen Mont Blanc und Monte Rosa den erstaunten Blicken sich bietet.

Mit der Jurabahn, einer auch interessanten, oft durch sehr romantische Thäler führenden Trace, gelangte ich via Sonceboz, Délémont, Basel spät am Abend des 27. Mai wieder in Strassbürg an, um eine Fülle der wechselvollsten interessantesten Erinnerungen reicher.

Zum Schluss muss ich wohl einige Worte der Entschuldigung und Rechtfertigung dafür sagen, dass ich die Erlebnisse meiner Reise mit solcher Ausführlichkeit, besonders die Gotthardpartie, in einer ornithologischen Zeitschrift mitgeteilt habe. Jedoch ist es meiner Meinung nach auch für weitere Kreise nicht uninteressant,

* [Dieses Exemplar erschien mir wegen seiner eigenartigen Schalenstructur als fraglich. Mittlerweile hat G. Schneider (Monatsschrift 1889, S. 143) darauf hingewiesen, dass es von Meissner in Bern dem Eileiter eines in der Schweiz geschossenen Geieradlers entnommen ist. (Meissner, Mus. Naturgeseh. Helvetiens. 1820, S. 59, No. 8.) Um das Ei messen zu können, goss man es seiner noch weichen Schale wegen mit Gyps aus. Das Ei ist von Schinz (Beschr. u. Abb. künstl. Nest, und Eier d. Vög. Zürich 1819) beschrieben und abgebildet. (Vergl. auch meine „Antwort“ auf Schneidens Kritik, Monatsschr. 1889, S. 269.) Lev.]

page 24 einmal die Schwierigkeiten und Gefahren mitzuerleben, welche heutzutage überall demjenigen begegnen werden, der sich zur Aufgabe gesetzt hat:

Ein Studium der europäischen Vögel in freier Natur.

Strassburg i. E., Anfang Juni 1888.

Vignette

Druck von F. Hessenlaud in Stottin.