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The Pamphlet Collection of Sir Robert Stout: Volume 22

III

III.

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Hesiod.

Arn Mittag des 22. Mai fuhr ich von Zürich mit der Schweizer Nordostbahn nach Zug, von dort mit dem Dampfboot über den schönen Zugersee nach Arth. Der Pilatus war in Wolken gehüllt, der Rigi lag in seiner stolzen Grösse klar vor meinen Blicken. Von Arth schob die Lokomotive den Waggon bis Gohlau, der berühmten Bergsturzstätte, dann weiter auf der Zahnradbahn jene weltbekannte Strecke den Rigi hinauf. Es passt nicht in den Rahmen dieser Arbeit, jene fürstliche Fahrt zu schildern mit dem Prachtblick auf die Mythen, den Zuger- und Lowerzersee, steil hin an der jäh abfallenden Kräbelwand, durch Tunnels und auf den kühnsten Brücken über die reissendsten Waldbäche und Wasserlalle. Nur kurze Zeit war von oben jener Zaubergarten sichtbar, die ganze Nord- und Ostschweiz mit der Menge von Seen und der Unzahl von Dörfern und Städten. Dann hüllte Nebel und Gewölk den ganzen Kulm in einen dichten Schleier. So hatte ich Müsse, den Rest des Tages mit der Suche nach alpinen Vögeln zuzubringen. Der Alpenflüevogel (Accentor alpinus**) war in mehreren Paaren nahe bei Rigi Staffel vertreten; Nester hatte er wohl noch nicht gebaut, da überall noch unwirtliche Schneehaufen

** In seinen Notes on the birds of the Upper Engadine (Ibis 1886, S. 27 ff.) stellt H. Seebohm in einer anziehenden Schilderung der Lebensart dieses Vogels es als eine von ihm entdeckte Neuigkeit hin, dass Acc. alpinus hüpfe und nicht laufe, indem Seebohm gleichzeitig den „writer qnoted by Naumann“ (Buffon! Ois. V. p. 15(i. Edit. de Deuxp. JX. p. 179) corrigiert. So leid es uns thut. können wir unserm geehrten Freund und Gönner diesen Ruhm nicht lassen, da schon Sprüngli (in Andreae's Briefen, Anhang zum 31. Briefe 1775, p. 203) deutlich sagt: „Sie tragen ihren Leib schön, bewegen im Hüpfen öfters den Schwanz, wie auch die Flügel.“ Lev.

page 9 lagen. Das Thermometer zeigte um 7¾ h. p. m. + 7° R. bei einem Barometerstande von 623 mm. Die Vögel flogen munter und wenig scheu nahe den kleinen Fichten, welche über Station Kaltbad auf dem Rigi-Rotstock ihr Dasein fristen. Ein Paar Tannenhäher (Nuc. caryocatactes) krächzte vergnüglich in einem etwas höheren Bestände. Sonst vernahm ich nichts besonderes Interessantes — eine sehr laute Singdrossel (Turd. musicus) liess thalwärts ihre repetierende Stimme erschallen, als in den Hotels schon Licht angezündet war.

Am anderen Morgen führ ich über die anderen 10000 Zähne der Bahn nach Vitznau herab, ohne den Sonnenaufgang genossen zu haben, da auch am 23. alles in dichten Nebel gehüllt lag. Auf der Station in Vitznau liess ich leider meinen guten Harzstock, einen Andreasberger, zurück — weshalb dieses erwähnt werden muss, wird der freundliche Leser bald sehen. Die .,Helvotia" trug mich nun über die grünen Fluten des Viorwaldstätterseos vorbei an Brunnen und der Tellskapelle neben der Axenstrasse und der etwas tiefer liegenden Gotthardbahn nach Flüelen. Das Wetter war herrlich und die Temperatur gegen die winterliche Kälte des Rigi geradezu drückend heiss. Sofort vom Dampfboot ging's zum Bahnhof, um mit dem Expresszuge auf der grossartigsten aller Bahnen nach Göschenen zu jagen. Die von mir gewählte Reisezeit war in jeder Beziehung eine sehr glückliche: wenig Reisende, keine zu grosse Hitze und vor allem: Wasser in allen Bächen und Flüssen, welches namentlich in den oberitalienischen Gewässern zwei Monate später arg fehlt. Die Reuss hatte hohen Wasserstand; tobend schoss das grünliche eiskalte Gletscherwasser in dem engen Thal herab. Nachdem wir um das Kirchdorf Wassen dreimal in Schraubenlinien uns emporgewunden hatten, so zwar, dass man von der höchsten Stelle der Bahn die Tunnels und Brücken in drei Etagen senkrecht unter sich sah, liefen wir bald in die Station Göschenen ein, einen Steinwurf vor dem Mundloch des längsten aller Stollen, des Gotthardtunnels. Durch eine gute Mahlzeit gestärkt, stieg ich nunmehr den Gebirgsstock hinan, vorerst liess ich vor meinen Augen den Zug in den Berg einfahren: ein märchenhafter Anblick, wenn man die schneebedeckten Alpen in dem engen Thal ringsum bis zu den Wolken ansteigen sieht.

In der wilden Felsenschlucht der Schöllenen merkte ich gar bald, dass meine Hoffnung, unterwegs einen Ersatz für den eingebüssten Stock zu finden, trügerisch sei, denn keine Bäume wuchsen auf den öden Steinklüften, kaum fanden kümmerliches page 10 Moos und einige Flechten hier noch ihr Fortkommen. So ging's, in Serpentinen in der nur durch das Gebrause der Reuss unterbrochenen Stille langsam den St. Gotthard hinan. Vom Grat der Felsen lagen ab und zu wie ein langes Tuch zu Thale die Reste der hier allzuoft stürzenden Lawinen, vor welchen die Strasse sogar durch Schutz-Gallerien bewahrt werden musste. Kurz hinter einem Felsendurchlass gelangte ich an den imposantesten aller Wasserfälle, den der Reuss unter der Teufelsbrücke, an jener Stelle, we einer der schauerlichsten Kämpfe von 1799 stattgehabt. Wirkt schon die Scenerie, die tausend Fuss hohen, kahlen, finsteren Felsenwände, das enge Thal, der wilde Fluss in seinem jähen, wohl hundert Fuss tiefen Absturz, das donnerähnliche Getöse des Wassers, in höchst eigentümlicher,' ergreifender Weise auf den Beschauer, so erfüllt ihm vollends der Gedanke das Herz mit Schauern, dass sich in das Gebrüll der Wellen das Todesröcheln von vielen Hunderten braver Streiter zu mischen scheint.—

Den Ernst bewahrt die Gegend; steiler und steiler streben die Felsen himmelan, sie engen sich ein zum sog. Urnerloch. Hinter diesem Stollen breitet sich das Urnerthal aus vor den erstaunten Blicken des Wanderers; allerdings kein freundliches Thal! Kahle, felsige Bergriesen, deren Gipfel ganz von Schnee bedeckt, fahle graugrüne Wiesen, kein Baum, Strauch, kein blühendes Getreidefeld — das ist die Landschaft, welche dieses Thal bildet. Im Beginne desselben liegt Andermatt oder Ursern, ein ärmlicher Ort, den wir schnell passieren wollen. Zu unserer Freude vernehmen wir wieder Vogelgesang: ein Sperling (Passer domesticus*) zwitscherte von einem Hausdache, ein Paar Hausschwalben (Hir urbica) fliegen über die Strasse, hier (1444 m) wohl nahe dem höchsten Punkte ihrer verticalen Verbreitung. Auf den sehr feuchten Wiesen sangen viele Wiesen- und Wasserpieper (Anthus pratensis et aquaticus), auf deren Nestsuche ich aus Zeitmangel leider keinen Augenblick verwenden konnte. Längs der Steinböschungen, welche die Fahrstrasse zur Rehalp und zum

* Diese Thatsache verdient besondere Beachtung, da 1869 Professor Moesch in seinem Tierreich der Schweiz. S. 167 ausdrücklich bemerkt: haus-sperling sehr gemein, mit Ausnahme des Urserenthales und, wie er mir freundlichst brieflich mitteilte, bis 1870 dem Ornithologen J. Nager in Andermatt aus jenem Thale noch nicht bekannt war. Dasselbe erwähnt beiläufig V. Fatio in seiner Distribution vertic: des sylv.: en Suisse. In: Bull, soc. ornith. suissc. tom. 1. 1865/66 S. 42. Auch im Ober-Engadin, beim Maloja-Hotel vermisste ihn H. Sce-bohm. (Ibis 1886, S. 26.) Auf das eigentümliche Fehlen des Sperlings in einigen Harzorten werde ich später zurückkommen. [Dagegen traf mein Vetter, der Land-gerichts-Director R. Grisebach zu Osnabrück, im August d. J. auf der Höhe des Wormser Jochs, also in fast 2800 Meter Höhe, Sperlinge an. Lew]

page 11 Rhonegletscher hin begleitet, traf ich mehrere Paar Steinschmätzer (Sar. oenanthe), welche lustig mit dem Schwänze wippend und ‚Tschek‘ rufend ihre Weibchen beim Nestbau erlustigten. Wenigstens fand ich in den Steinen zwei frische leere Nester, welche wohl bald belegt sein werden. Gradenwegs, ohne steigen zu brauchen, wandelte ich in dem hier ganz flachen Reussthale weiter, links das Mutthorn und die Furka, rechts den Bützberg — alle diese Schneeriesen prachtvoll beleuchtet, vom reinsten Blau überdeckt. So kam ich bald nach Hospenthal, von we aus der eigentliche Gotthard-Aufstieg beginnen sollte. Durch eine gute Tasse Kaffee und ein kräftiges Stück Brod gestärkt, begann ich genau um 4 Uhr die Gotthardstrasse hinanzusteigen. Gleich ober Hospenthal begegnete mir ein wildaussehender Bursche, der sich als Führer (12 Franken, nur für den Anstieg!) anbot; ich verzichtete. „S'liegt ne Viertelschtund höher schon Schnee! Gestern bin i mit drei Herren obe gewese, habe 4½ Schtund gebraucht!“ rief mir der Geselle nach. Als ich nach einer halben Stunde sehr rüstigen Wanderns an den ersten Schnee auf der Chaussee kam, merkte ich, dass mich der Kerl angelogen hatte. Schon nach zehn Minuten Kletterns sieht man von dem ganzen Ursemer Thal nichts mehr. Eine dem Schöllenen - Thale ähnliche, höhere, imposantere jähe Felsenschlucht steigt die Gotthardstrasse hinan. Wohin der Blick schweift, liegt in langen Fetzen der Lawinen-schnee die Felsen herab. Unten in der Thalsohle rast die Reuss dahin. Vier Uhr dreissig Minuten kam ich an die erste Stelle, we von rechts oben eine Lawine gestürzt war, die breite Gotthardstrasse überschüttet hatte und vom Felsengipfel bis zur Reuss eine lange schräge Schneefläche bildete. Wenn auch nicht auf eine solche Tour eingerichtet, — ich trug Stiefeletten, kein Unterzeug, keinen Überzieher, keinen Stock — so wollte ich doch nimmer zurück: galt diese Tour, die bei glänzendem Wetter begann, doch der Beobachtung des Alpenschneehuhns (Lagopus alpinus Nils), einer sehr stolzen Art, welche schon einen Kampf verlangte und auch — wert war. — Dieser erste ‚Schneesturz‘, wie ich die geschilderte Wegsperre nennen will, war nicht so steil, dass ich nicht, den gestrigen frischen Fussspuren folgend, gerade aufgerichtet hätte gehen können. Nach etwa 30 Schritten hatte ich wieder festen Boden unter den Füssen. Keine zehn Minuten weiter wiederholte sich dasselbe Schauspiel, diesesmal war der Schneesturz breiter.

Auf der gesammten Gotthardstrasse, sowohl nach der Schweizer, wie nach der Italienischen Seite hin, sind dem Thale zu in Abständen von drei Schritten kleine, etwa einen halben Meter hohe page 12 Steinsockel eingelassen. Sie stehen an der Kante einer gemauerten Brüstung, welche, je nachdem der betreffende Bergesabhang steiler oder flacher ist, bald 20—30 Fuss tief abfällt, bald sich zu nur einem Meter oder noch weniger erhebt. Bei den folgenden Schneestürmen war es mir hie und da möglich, zwischen den Sockeln und der Brüstung, auf einem schmalen Saumpfade also, zu gehen und die Kletterei auf dem Schnee, welche meine drei Vorgänger Tags zuvor ausgeführt, zu vermeiden. In der Zwischenzeit war der Schnee weiter geschmolzen, auch hatte die abstürzende Schneemasse in den Sockeln einen Widerstand gefunden, welcher sich in dem Brüstungsabfall fortsetzte, so dass der durch die Sockel zertrennte Schnee eher den warmen Sonnenstrahlen hatte weichen müssen, andererseits hart an den Brüstungen herab sich schmale fussbreite Spalten bis auf den Boden hinab gebildet hatten. — Bei einer Knickung des Thaies nahm das Landschaftsbild einen weit winterlicheren Charakter an: während vordem nur in grösseren Abständen Schneestürze auf der gegenüberliegenden (rechten) Seite der Reuss, wie auf der von mir begangenen linken Seite stattgefunden hatten, waren in diesen höher gelegenen Partien allüberall die Lawinen gefallen, ja hatten die Reuss so vollständig überdeckt, dass nur ab und zu der rasend stürzende Fluss durch seine Ueberwölbung hindurchblickte, an Stellen, we durch einen Wirbel oder Strudel der Schnee unterwühlt war. Häufiger und häufiger musste ich über den Schnee klettern, denn das Gehen allein genügte nicht immer. War der Absturz zu steil, so legte ich mich mit dem Körper ganz nach rechts über und stiess mit den gespreizten Fingern der rechten Hand in den ziemlich weichen Schnee. Natürlich war es unangenehm, wohl eine Stunde lang den Körper immer so einseitig zu bewegen, dabei Gluthitze im Gesicht, eiskalte Füsse. Somit war ich ganz damit einverstanden, als auf einmal die bislang doch noch ab und zu erblickte Gotthardstrasse völlig in und unter dem Schnee verschwand, die Sockel desgleichen, und die Spur meiner Vordermänner geradeaus auf das langsam ansteigende Schneefeld überging. Von der Reuss war gar nichts mehr zu sehen; ja kaum konnte ich von dem durch den Schnee gedämpften Rauschen noch etwas hören! Nach meiner Berechnung musste ich in nicht allzu langer Zeit auf dem Hospiz anlangen. — Bisher war das Wetter herrlich gewesen, allein ich kam jetzt in die Region, we fast immer Wolken lagern und Nebel herrschen. Unbestimmter wurde die Aussicht vorwärts, aber we möglich bei einbrechender Dunkelheit zurück über die Schneestürze zu kraxeln, daran dachte ich gar nicht — Ich bemerke ausdrücklich, dass ich trotz angespanntester Aufmerksamkeit page 13 auch nicht einen Ton eines Vogels seit Andermatt vernommen hatte! Anstattdessen kam ich in Bälde auf einen offenbaren (Tainswechsel; typische Losung, zwei Schritte von meiner Spur entfernt, beseitigte jeden Zweifel! — Da ich stark in Transpiration geraten war, band ich das Taschentuch um den Strohhut zum trocknen; als ich es nach einiger Zeit herabnehmen wollte, war es fort. Sollte ich umkehren? Gewiss, denn die Mönche des Hospizes konnten es mit Hülfe ihrer berühmten Hunde finden und vergeblich nach einem Nichtverimglückten suchen! Einige Zeit war ich unschlüssig, allein der Blick auf die Uhr und die immer wachsenden Nebel bestimmten mich weiterzugehen — ich konnte es den Mönchen ja bald erzählen!

Aus dein Grau und Weiss blickte ein dunklerer Punkt auf — ah das Hospiz! dachte ich, beständig in Gedanken eine famose lateinische Kintrittsrede für die Mönche einübend. Das Perspektiv überzeugte mich jedoch, dass zwei oder drei grosse Felsblöcke das vermeintliche Hospiz seien. Die Spur, der ich wie Pfadfinder mit peinlichster Ängstlichkeit folgte, führte darauf zu. Schon überlegte ich, wie ich mich davor sichern sollte, von den ziemlich ausgedehnten Felsen aus, die Fortsetzung des „Weges“ 1 nicht findend, wie so manche Reisende vor mir, auf der gekommenen Spur umzukehren und vermeintlich weiterzugehen, als ich, gerade bei, dem Felsen angelangt, mit dem einen Fusse in den weichen Schnee am Stein, mit dem andern auf denselben trat. Ratsch, riss mein ohnehin strapaziertes Beinkleid von oben bis unten entzwei. Mit einiger Mühe kraspelte ich aus der Spalte auf den Felsen, legte mein grosses Fernrohr an der Stelle nieder, we ich angetreten — um mich gegen die eben erwähnte Gefahr und Irrtum zu schützen — und suchte, auf einem Beine bei jedem Windstoss nackt, die Fortsetzung der Spur. Vom zweiten Felsen aus fand ich sie schnell, deponierte hier mein kleines Perspektiv, lief vom Anstieg zurück und setzte dann munter den Weg über den Schnee fort. Alles Sichtbare weiss, alles Schnee, Schnee, Schnee! Der Horizont in Nebel gehüllt. Kein Ton. Leichenstill. Da hörte ich auf einmal, nach der langen Ruhe für die Ohren, selbst erschreckend, ein wunderliches, tiefes Schnarchen rechts von mir im Nebel. Wie angewurzelt hielt ich. Kuorr, Kuorr — tönte es jetzt auch links. War es ein tückischer Berggeist! Nur einen Sekundenteil hatte die milde Fantasie die Herrschaft — dann kam der nüchterne Verstand an die Reihe und sagte: Am Ziel der Wünsche, dieses sind Alpenschneehühner." Vielemale wiederholten die Tiere den so höchst eigenartigen Ton, den ich am besten mit jenem Geräusch vergleichen kann, welches entsteht, wenn man gleichzeitig page 14 das Wort Kuorr (einsilbig) spricht und dabei schnarchend die Luft ausathmet. Natürlich machte ich Halt; markirte genau den Platz, we ich stand (um nicht die Spur zu verlieren!) und durchbohrte mit bewaffnetem Auge den Nebel — vergeblich, zu fern waren die geliebten Tetraonen und zu dicht der Nebel! Also weiter! Ich gelangte noch an eine Stelle, woselbst die Reuss sichtbar wurde, einen greulichen Strudel bildend, durch welchen die überlagernde Schneemasse zerstört war. Nur einige Quadratmeter gross war das Loch im Schnee. Da schimmerte wieder etwas Graues, Unbestimmtes am Horizont auf. Das Hospiz? Ach nein, es war eine sog. Cantoniera, ein vollständig eingeschneites Haus, dessen Dach zerbrochen, dessen Thür vom Schnee eingedrückt, und auf dessen leerer Diele ein hoher Turm Schnee lag. Ein seltsamer Anblick! Nach einem ziemlich steilen Aufstieg auf eine kleine Anhöhe sah ich in der Abdachung vor mir eine Brücke, es war die letzte der Reussbrücken, die neunte, die Rodontbrücke, unter welcher sogar der Schnee den Fluss überdachte. Vom Wasser war nichts zu sehen noch zu hören! Als ich, ängstlich, meine Vorgänger möchten über die Reuss hinweggegangen sein, der Brücke zusteuerte, sah und hörte ich gleichzeitig ein paar fidele Schneefinken (Fringilla nivalis L) welche zu einem Felsblock flogen und sich hier setzten. In einer eisigen Gegend ohne jedes Grün, we nur Schnee — was in aller Welt thun hier diese sonderbaren Vögel? Sie blieben liebenswürdiger Weise solange sitzen, dass ich sie mir gut ansehen konnte, an einer für mich besonders angenehmen Stelle, mit dem festen Boden der Brücke unter meinen nassen Füssen. — Nach meinem Bädecker hatte ich jetzt noch 25 Minuten bis zum Hospiz. In der That passirte ich bald die zweite Cantoniera, in deren Nähe wiederum Schneehühner riefen. Ich glaube sogar, eines gesehen zu haben, doch war mir bei dem Nebel nicht möglich, mich meiner Sache zu vergewissern. Und damals riskierte ich noch nicht, weiter als fünf Schritte meine Spur zu verlassen, um auf der Schneefläche den rätselhaften Tieren und Tönen nachzugehen. Von Minute zu Minute erwartete ich einem der Mönche zu begegnen; sie mussten doch wohl eine Abend-Ronde machen? Aha, da war die Fährte eines grossen Hundes. Gewiss so ein menschenrettender Bernhardiner! Ruhen wollte ich nicht; wozu auch, hatte ich doch die Spur! Der Nebel wurde dicker und dicker. Sehr unbestimmt erschienen graue Körper vor mir; sie nahmen Gestalt an: Häuser! Das Hospiz! Ja in der That: ein verschlossenes, unbewohntes Haus zunächst: Hotel du Mont Prosa, bis zum Hochparterre eingeschneit. Daneben ein finsteres Haus, dessen Thür halb offen. Ich trat ein 6¼ Uhr und stieg die Treppe hinauf, da unten Stallung zu sein page 15 schien. In einem düsteren Gemache trat mir ein Italiener entgegen. „Bin ich hier im Hospiz?“ fragte ich auf französisch. „Wo sind die Mönche?“ — — Ich erfuhr, dass seit der Eröffnung der Gotthardbahn und des grossen Tunnels der Canton Tessin das Hospiz eingezogen habe, keine Mönche oben seien und er, der Italiener, zur Aufnahme von meteorologischen Beobachtungen dort stationiert sei. Das sind die Folgen, wenn man mit einer alten Auflage von Bädecker reist!! Meine erste Bitte war natürlich, meinen beträchtlichen Kleiddefekt zu nähen, welcher der freundliche Mann auch bald, wenn auch ohne Kunst, nachkam. Sodann trank ich ein Quart roten italienischen Wein und fragte nach dem Abstieg nach Airolo. Hierüber erhielt ich nur dürftige Auskunft, ich möchte vorläufig der Telegraphenleitung folgen, später immer im Thal der Tremola, dann des Ticino bleiben. Eile war nötig, wollte ich den Abendzug nach Italien zu noch erreichen. In 1¼ Stunde gedachte ich unten zu sein. —

Punkt ½7 Uhr trat ich den Abstieg an. Die Telegraphenstangen waren gute Wegweiser; die Spur eines Menschen, der heraufgekommen war, bot weitere Sicherheit. Aber kaum war ich 10 Minuten über den Schnee gelaufen," als die Telegraphenstangen verschwanden — die Leitung mag vom Schnee begraben sein oder unterirdisch oder wenigstens unter dem Schnee weitergehen — und die Spur scharf rechts einem Thale zu bog. Allein der Unselige, dessen Stapfen ich folgte, war offenbar sehr des Weges unkundig gewesen, denn bald lief die Spur eine Anhöhe hinan, bald dieselbe wieder herab, bald vorwärts, bald rückwärts. So bedauerte ich nicht, dass sie gar bald sich ganz im Schnee, vom Schnee überweht, verlor, sah ich doch die steilen Schneefelsenwände vor mir, in denen die Gotthardstrasse laufen musste, in deren tiefster Tiefe die Tremola, ein reissender Gletscherbach, fliessen musste. So lief ich flink und längst mutig geworden, zu laufen auf Schnee, we vordem, soweit sichtbar, kein Menschenfuss gewandelt, die Abhänge schräg herab, stets hoffend, bald die erwünschten Sockel der Strasse zu erblicken. Ja, ja, da waren sie. Nur frisch darauf zu. Ich erreichte die Strasse: als ich aber meinen Fuss auf sie setzte, ergriff mich ein Schaudern; eiskalt lief es mir den Rücken hinunter. Soeben mit den letzten Sätzen war ich auf dem Schnee über die Tremola gesprungen, welche gerade an der Stelle, we die Strasse freilag, von dieser überschritten wurde! Nur auf wenige Schritte war die Strasse frei. Alles von Schnee bedeckt. Der Nebel hatte sich Gott sei Dank etwas verzogen, so dass ich wieder blauen Himmel und eine gute Strecke vor mir her die Situation übersehen konnte. —

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Das Val Tremola ist ein sehr enges Thal mit himmelanstrebenden jähen Felsen jederseits, natürlich alles schneebedeckt. In der Tiefe der Tremola, unsichtbar, unhörbar, ganz von hohlen Schneegewölben überdacht. Ich ging jezt „links“, das heisst rechts hatte ich die Thalsohle und linker Hand die Bergwand. Die letztere war recht steil, so dass ich nicht mit Gehen auskam, sondern minutenlang mit der linken Hand in den Schnee stechen musste, um eine weitere Stütze zu gewinnen. Immer noch nichts von der Gotthardstrasse wiederzusehen! Immer steiler wird die Wand. Ich konnte nicht mehr in der bisherigen Weise mit Hand und Fuss gehen. Nein, ich musste mich umdrehen, so dass ich, mit dem Gesicht dem Schnee zugekehrt, mit den beiden Fuss-spitzen in den Schnee einstiess und so seitwärts kriechend auf allen Vieren mich langsam weiterbewegte. Die beiden Ferngläser hatte ich jederseits auf einer Schulter, die Riemen über dem Rücken durcheinander geschränkt. Auf hundert Gänge sah ich einen Felsen hervorragen. Da wollte ich ausruhen. Rüstig weiter. Einen Augenblick musste ich halten, da ich einen heftigen Wadenkrampf infolge des ungewohnten muskelanstrengenden Gehens bekam. Weiter, weiter. Da habe ich den Felsen. Gottlob. Ich krieche hinein zwischen zwei Stücke und klammere mich fest. Es bröckelt, der Stein hat keine Festigkeit. *) Aber ich kann doch sicher etwas niederkauern, in das abtropfende Wasser mich setzen, um mich umzusehen. Allerdings macht das Thal Tremola hier eine kleine Drehung. Aber nichts ist von der Strasse zu sehen; gar nichts. Doch zweihundert Schritte weiter ist wieder ein Fels, vielleicht sehe ich dort etwas? Viele hundert Fuss geht die schräge glatte Lawinenschneewand über mir bis in die wolken- verhüllten Felsgipfel der Bergriesen; viele hundert Fuss geht die schräge glatte Lawinenschneewand unter mir bis zu der schneeverhüllten reissenden Tremola im Thale! Ich muss weiter! Steiler und steiler ward die Wand; erschöpft musste ich häufiger pausieren; da giebt links unter dem Fusse der Schnee etwas nach, ich trete fester hinein; da bröckelt rechts unter der Hand der Schnee fort.; die blutüberströmte Hand bohrt sich tiefer in das Eis. Weiter, weiter. Ein heftiges Zittern überkommt die Glieder, besonders die Füsse. Wieder giebt der Schnee nach, links oben, unten rechts. Ich verliere den Halt. Mit letzter Kraft reisse ich mich herum. Liege auf dem Rücken. Sause das Thal hinab. Ein

* „Die Steinart ist so weich und mürbe, dass man sie mit den Fingern von den Felsen abblättern und zu Staub zerreiben kann“ Andreae l. c. S. 107

page 17 lautes Hilf Gott" durchdröhnt die Schlucht. Im Hinabrutsch passierte ich einen Stein, die Hand packt unwillkürlich danach. Durch den Anprall in's Rollen versetzt, fliegt er, schneller als ich, vor mir in die schräge Fläche hinab. Hören und Sehen vergeht mir. „Hilf Gott“ ertönt es zum zweiten Male gellend. Und nun bedenke, der Du dieses liesest, dass ich 100mal schneller hinabflog, als Du oder irgend sonst wer dieses zu lesen im stände sind. . . .

Wie durch ein Wunder hemmten die Absätze meiner Stiefel, welche ich, wie der Reiter dem Rosse, dem Schnee in die Weichen presste, die tolle Fahrt. Ich rutschte langsamer, ich hielt. — Zehn Schritt vor mir war die Thalsohle, in welcher die Tremola grollend ihre Wasser rollte. Der Stein lag ein wenig eingesunken auf der Decke. Warum flog ich nicht so weit? — Wäre ich auf den Hohl-wall, der den Gletscherbach überwölbte, geflogen, so hätte unter dem durch die enorme Geschwindigkeit sehr verstärkten Anpralle gewiss das morsche Schneedach nachgegeben, ich wäre von der Tremola fortgerissen — unter dem Schnee und in dem eisigen Wasser gleichzeitig erfroren, erstickt und ertrunken.... Gottlob athmete ich, fühlte, einem sonderbaren Gefühle folgend, zuerst nach den beiden Perspektiven (deren eines nicht mein eigen), nach Uhr, Portemonnaie — alles in Ordnung, auch der Hut auf dem Kopfe. Dann blickte ich nach oben. Mehrere hundert Fuss sicherlich oberhalb sah ich den Felsen, bei dem und in dem ich soeben gerastet! —

Durch diese wunderbare wilde und doch sanfte Thalfahrt war ich dorthin gelangt, wohin ich musste, in die Tiefe des Thaies Tremola. Munter förderte ich meine Schritte, sicher über den Schnee dahinschreitend. Nun kreuzte ich bald die Gotthardstrasse, die darauf wieder für längere Zeit verschwand. Noch eine kleinere Gefahr war zu bestehen. Als ich die Strasse nach manchem kühnen Schneelauf wieder erreicht hatte, musste ich, um weiter zu kommen, über die Brüstung derselben auf den durch die oben geschilderte Spalte getrennten, gegenüberliegenden Schnee springen. Jedoch war die Entfernung reichlich, und der Schnee an der Stelle, we er an die Spalte grenzt, leicht begreiflicherweise unsicher. Ich nahm einen Anlauf, so kräftig ich konnte, und warf mich längelangs mit dem Kopfe möglichst weit nach vorne auf das andere „Ufer.“ Es gelang; unter den Füssen bröckelte der Schnee ab — den Körper hielt der Schnee! —

In der Verlängerung des Val Tremola, weit, weithin sah ich hier einen ausgedehnten See, tiefblau und ähnlich aussehend wie der Zuger See vom Rigi aus; als ich einem gegendkundigen page 18 Franzosen davon später erzählte, behauptete er, ich hätte auf eigenartig beleuchtete Wolken herabgeblickt, ein See sei dort nicht zu sehen. Endlich erreichte ich ein längeres schneefreies Stück der Gotthardstrasse, gelangte nunmehr in das Thal des Tessin und passierte bald die für mich erste Cantoniera „di val Tremola“ (nach Bädecker: dritte, so waren No. 1 und 2 wohl unter dem Schnee begraben!). Das Tessinthal führt den unheilkündenden Namen Volle Leventina (Lawinenthal) und rechtfertigt ihn in der That Denn an den steilen Felsen und Bergesabhängen lagern überall die mächtigen Schneestürze, Reste der hier gefallenen Lawinen, bisweilen mit Steinen, Schutt und Geröll untermengt. Noch eine gefährliche Kletterpartie über einen solchen Schneesturz und ich hatte weithin, von unbedeutenden Schneefällen abgesehen, die in sehr zahlreichen Schlangenwindungen absteigende Gotthardstrasse vor mir, welche ich rüstigen Schrittes abwärts verfolgte. — Für die Instandhaltung und Schneereinigung dieser Gotthardstrasse*) hat vor Bau des grossen Tunnels der Canton Tessin ein jährliche Ausgabe von 30—35000 Franken gehabt; es ist sehr leicht begreiflich, dass man jetzt den stolzen Bau ganz verfallen lässt; wandeln doch nur sehr wenige jetzt noch über den Bergriesen, we es so äusserst bequem ist, im comfortabeln Salonwagen, auf weiche Polster gestreckt, im Munde die duftige Havannah zur Abwehr gegen die schlechte Luft, welche trotz Patentschlusses aus dem Tunnel ins Coupee dringt, in nicht ganz 20 Minuten die unterirdische Strecke von last 15000 Metern zurückzulegen! — Den heftigen Durst unterwegs stillte ich mit dem köstlich-reinen Hoch- gebirgsschnee; dieses sowohl wie überhaupt die ganze Tour ist mir ausgezeichnet bekommen! Ornithologisches hörte und sah ich auf dem Abstieg absolut nichts. Abends 10 Uhr 25 Minuten langte ich in Airolo im Hotel an. —

Man wird diese Exeursion jedenfalls gewagt nennen; doch bitte ich zu berücksichtigen, dass keine Silbe von den Schnee-massen in meinem Bädecker (Aullage 15) **) stand und dass ich, einmal oben, mit grösserer Gefahr den Rückweg als den Weitermarsch unternommen haben würde. Keinen Moment bedauerte ich unterwegs, allein zu sein: zwei hätten sich nach der gedankenlos angenommenen Tradition aneinander gebunden und zweifellos wären zwei bei dem Bergsturz nicht im Gleichgewicht geblieben, sondern kopfüber in die Tremola gestürzt. Ob mir ein „Alpenstock“ — ohne Griff, eine ungewohnte Stütze für den Flach-

* Geschichtliches über die Gotthardstrasse enthält in sehr angenehmer Form Buddeus, Schweizerland. 2. Teil, S. 302 ff. Leipzig 1853.

** [Auch i. d. neuest. 22. Aufl. (1887) figuriert immer noch das Hospiz! Lov.]

page 19 länder — und „Alpenstiefel“ genützt hätten, ist mir sehr zweifelhaft. — Wie dem auch sei, der dreiundzwanzigste Mai Eintausend-achthundertachtundachtzig wird stets zu meinen interessantesten Erinnerungen gehören! —